Anne Wizorek: „Sexismus durchzieht unsere Gesellschaft“

Interview mit Anne Wizorek* über die Vorfälle von Köln in der Neujahrsnacht 2016.

Frau Wizorek, Sie haben bei Twitter den #Aufschrei gegen Rainer Brüderle angeführt. Schreien Sie jetzt auch?

Aufschrei wurde nicht gegen Rainer Brüderle initiiert. Das war ein zeitlich zufälliges Zusammentreffen. Deshalb ist es ein bisschen bizarr, dass man uns vorwirft, wir hätten Brüderle kritisiert, kritisieren aber nicht das, was in Köln passiert ist. Wir beschäftigen uns tagtäglich mit diesen Themen und verdeutlichen, dass Sexismus und sexualisierte Gewalt zusammenhängen.

Trotzdem steht der Vorwurf der Tabuisierung gegen die linke und liberale Öffentlichkeit im Raum.

Er ist absurd. Wir verurteilen sexualisierte Gewalt von Migranten genauso wie von Nichtmigranten. Jeder Übergriff ist einer zu viel.

Noch ist nur teilweise klar, wer in Köln was genau getan hat und warum. Wie bewerten Sie denn das, was wir bisher wissen?

Dass Frauen im öffentlichen Raum sexuell belästigt werden, ist nicht neu. Aber die Massivität, in der das offenbar in Köln geschah, die ist neu. Andererseits meldet das Oktoberfest pro Jahr im Schnitt zehn Vergewaltigungen; die Dunkelziffer wird auf 200 geschätzt. Im Karneval werden Frauen K.-o.-Tropfen verabreicht. Darüber finden keine Debatten statt. Dabei zeichnet sich sexualisierte Gewalt dadurch aus, dass sie überall und von allen Schichten verübt wird, von Migranten ebenso wie von Nichtmigranten.

Es macht aus Ihrer Sicht also keinen Unterschied, dass die Täter offenbar einen Migrationshintergrund hatten?

Nein. Warum sollte es das? Alle Menschen, die das tun, müssen bestraft werden. Der Unterschied besteht darin, dass die Vorfälle nun instrumentalisiert werden – gerade auch von Leuten, die solche Vorfälle während der Aufschrei-Debatte noch verharmlosten. Rechtskonservative, und leider auch einige Feministinnen, nutzen die Geschehnisse in Köln nun für rassistische Hetze.

Wachsen Männer aus der islamischen Welt nicht mit einem anderen Frauenbild auf und neigen darum eher zu sexueller Gewalt?

Sexismus beschränkt sich nicht auf diese Menschengruppe. Er durchzieht unsere gesamte Gesellschaft – und das ist das Problem, über das wir reden müssen. Wir dürfen das Thema nicht nur dann entdecken, wenn es um Täter mit Migrationshintergrund geht. Die Leute, die die Vorfälle von Köln kritisieren, sind gleichzeitig oft jene, die sexualisierte Gewalt von Einheimischen verharmlosen und betroffenen Frauen die Schuld daran geben.

Trotzdem: Potenzieren viele junge Männer aus muslimischen Ländern womöglich das Dilemma? Ein knappes Drittel der verdächtigen Sexualstraftäter sind Ausländer.

Die Probleme Sexismus und sexualisierte Gewalt sind wie gesagt schon längst da. Warum wir sie immer erst in den Fokus nehmen, wenn sie von muslimischen Männern ausgehen, verstehe ich allerdings nicht. Auch ein Rainer Brüderle war zum Beispiel unter Hauptstad-Journalistinnen als notorischer Belästiger bekannt, aber mir ist nicht bekannt, dass er dem Islam angehört. Die deutschen muslimischen Männer, die sich für eine gleichberechtigte Gesellschaft starkmachen, kommen wiederum in der Debatte gar nicht erst vor.

Sie sehe im Licht der Flüchtlingswelle kein zusätzliches Problem?

Geflüchtete pauschal anders zu bewerten, finde ich erst mal problematisch. Man muss sexualisierte Gewalt ansprechen und kritisieren – aber nicht nur in Bezug auf eine Menschengruppe, sondern als gesamtgesellschaftliches Problem.

Alice Schwarzer hat von Anfängen eines Krieges gesprochen.

Sie heizt genauso unnötig die rassistische Grundstimmung weiter an wie andere auch. Das ist bei Alice Schwarzer nichts Neues. Ich als Feministin finde es jedoch wichtig, zu zeigen, dass das nicht die einzige feministische Position ist. Mich stört außerdem, dass es in der Debatte nicht um bessere Hilfe für Betroffene geht. Sondern es geht vielen Leuten darum, zu demonstrieren, dass diese Gruppe von Männern für das angebliche Verhalten von allen Männern mit Migrationshintergrund steht.

Welche Schlüsse ziehen Sie nun?

In erster Linie hoffe ich, dass die Betroffenen gute Hilfe bekommen und das Trauma bewältigen können. Ansonsten zeigen die Vorfälle, dass der Stand der Debatte äußerst unbefriedigend ist, weil rassistische Standpunkte derzeit überwiegen. Wichtig ist zu verstehen: Sexualisierte Übergriffe geschehen jeden Tag und nicht nur an Silvester in Köln. Zahlen des Bundesfamilienministeriums zeigen: Knapp 60 Prozent aller Frauen in Deutschland wurden bereits sexuell belästigt, jede siebte hat strafrechtlich relevante Formen sexueller Gewalt erfahren. Diese Zahlen sind schon lange bekannt, finden aber in der Debatte kaum statt.

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*Anne Wizorek, 1981 in Brandenburg geboren, wurde bekannt durch die Debatte um eine sexistische Äußerung des FDP-Politikers Rainer Brüderle. Die Diskussion, die vor knapp drei Jahren zuerst vor allem online geführt wurde, lief unter dem Hashtag #aufschrei. Im oben geführten Interview spricht Wizorek über die Ereignisse in Köln und warnt davor, das Problem der sexuellen Gewalt auf eine bestimmte Tätergruppe zu reduzieren. [Interview: Markus Decker, THEMA DES TAGES, FrankfurterRundschau, 07.01.2016, 3].

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Kommentare zu »Anne Wizorek: „Sexismus durchzieht unsere Gesellschaft“«

  1. […] Getöse geht es vorgeblich darum, die Sorgen der Menschen im Land ernst zu nehmen. Als ob es keine sexualisierte Gewalt gegen Frauen mehr gäbe, wenn Berlin bei der Asylgesetzgebung nur ein weiteres Mal auf menschenrechtliche […]

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