J.M. Coetzee: Der Pole

J.M. Coetzee:

 Der Pole

Roman

Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke

  1. Fischer, Frankfurt a.M. 2023, 144 Seiten

Buchvorstellung durch Judith von Sternburg*

 

J.M. Coetzee braucht in seinem Roman „Der Pole“ wenig Platz, um äußerst nüchtern von einer starken Verstrickung zu berichten.

Eine Liebesgeschichte ohne erhöhten Pulsschlag erzählt Literaturnobelpreisträger J.M. Coetzee in seinem schmalen Roman „Der Pole“. Ein beinhartes Stück Literatur, dem Titelhelden entsprechend, dessen „Knochengerüst“ die Frau schaudern lässt, wenn sie sich vorstellt, er käme ihr näher. Sie liebt ihn nicht, warum stellt sie sich das vor, und warum ist es dann auch bald so weit? Er ist über 70, sie wird demnächst 50, das ist nicht wichtig, aber es ist beides wohlbewusst. Nach dem Sex – wie ist denn das gekommen? – klopft sein Herz übermäßig, wie unangenehm. „Das letzte, was sie sich wünscht, ist ein Leichnam in ihrem Bett.“

Eine Liebesgeschichte, kalt wie seine Hände, und doch lodert die Erzählung. Auch der Mann lodert, die Frau merkt es zunächst nicht. Sie ist so wenig interessiert, dass sie nicht einmal versucht, seinen Nachnahmen auszusprechen, daher der Titel des Romans, der aus ihrer Perspektive erzählt ist. Beatriz ist Spanierin, die gutaussehende, kluge, kühle Frau eines reichen Mannes. Ihre Söhne sind erwachsen, sie engagiert sich maßvoll für die Konzertreihe, bei der diesmal der polnische Pianist zu Gast ist. Er spielt Chopin, als wäre es Bach, damit kann sie wenig anfangen. Das obligatorische Abendessen bringt sie hinter sich, umso anstrengender, als sein Englisch nicht gut ist. Für sie ist die Sache nachher erledigt.

„Der Pole“ erzählt vom Zufall und ist selbst, wie Coetzee beiläufig klar macht, ein Zufall. In einer Welt der Möglichkeiten und flottierenden Figuren scheinen die beiden anscheinend bei ihm, dem Schriftsteller, aufgetaucht zu sein. „Wo kommen sie her, der hochgewachsene Pianist und die elegante Frau mit dem gleitenden Gang, die Frau des Bankiers, die ihre Tage mit guten Werken verbringt? Das ganze Jahr lang haben sie an die Tür geklopft und darauf gewartet, eingelassen oder weggeschickt und zur Ruhe gebracht zu werden. Ist jetzt, endlich, ihre Zeit gekommen?“ Offensichtlich, und obwohl „Der Pole“ von Beatriz aus erzählt ist, schwebt der Erzähler, den wir in diesem Fall für J.M. Coetzee halten müssen, darüber. Kühl auch er, sogar kalt.

Als die beiden sich im Ferienhaus von Beatriz und ihrem Mann treffen, werden sie von der Haushaltshilfe Loreta beäugt, vielleicht kritisch, vielleicht gleichmütig. Auch das „verborgene Leben“ Loretas, erklärt der Erzähler, hätte Thema des Romas sein können. Es kam anders. Auch das ein Zufall.

Die beiden treffen sich in ihrem Ferienhaus? In der Tat. Obwohl Coetzee alles hinschreibt, was zu sagen ist, bleibt im Letzten vage, sogar geheimnisvoll, wieso es sich so entwickeln konnte. Angesichts seiner Unbeholfenheit und ihres Desinteresses. Jedoch ist seine Unbeholfenheit von überrumpelnder Energie. Einige Zeit nach dem Konzert schreibt er ihr eine Art Liebesbrief. Sie staunt, er schlägt vor, ihn auf einer Brasilien-Tour zu begleiten. Sie denkt nicht dran. Erklärt sie und denkt an nichts anderes mehr.

„Der Pole“ ist in sehr kurze, gelegentlich nur ein paar Zeilen lange Kapitel geteilt. Während Beatriz nicht daran denkt, mit dem Polen nach Brasilien zu reisen, geht es Schlag auf Schlag mit der Nüchternheit eines Menschen, der sich einen Ziel entgege3narbeitet, dazu mit meisterhaftem Witz. Kapitel 21: Sie und ihr Mann haben seit Ewigkeiten kein gemeinsames Schlafzimmer mehr. Kapitel 22: Ihre Freundinnen haben Affären, sie aber nicht. 23: Sie war schon in Argentinien, aber noch nicht in Brasilien. 24: Sie hat es auch jetzt keineswegs vor, aber wie würde sie ihre Anwesenheit erklären, in Brasilien? 25: „Ein verliebter alter Mann. Lächerlich. Und eine Gefahr für sich selbst.“ 26: Er hatte seine Chance – hätte sie damals doch an der Schulter berühren können., zum Beispiel -, aber er hat sie nicht genutzt. 27: Sie mag kein Portugiesisch, aber vielleicht klingt es in Brasilien anders? 28: Sie mag sich gar nicht vorstellen, mit ihm im Bett zu sein, „das große Knochengerüst. Sie schaudert. Diese kalten Hände auf ihrem Körper“.

29, noch einmal ein kurzes Ritardando: Warum hat er sich überhaupt ausgerechnet in sie verliebt? Das fragen wir uns auch, während sie nicht an eine Brasilienreise denkt und sie auch tatsächlich nicht antreten wird. Stattdessen lädt sie ihn in das Landhaus ein. Ir Mann werde da sein. Ihrem Mann sagt sie, der Pole könne erst ein wenig später kommen. Winzige Lügen und Heimlichkeiten, ihrem Mann gegenüber, auch sich selbst gegenüber, was sich in der coetzeegemäß gerafften Übersetzung von Reinhild Böhnke nicht nur pfiffig, sondern brillant liest.

Liebe achtet nicht auf das Niveau, sie achtet auf nichts 

„Ihr Mann reist ab. Der Pole kommt an.“ Coetzee nutz kurze Sätze, nicht um die unzweifelhafte Kargheit des Erzählens noch stärker hervorzuheben, sondern weil es Ereignisse gibt, die durch Welten voneinander getrennt sind. Im Text kann ein Punkt eine Welt sein, lässt der Ungar Lászió Krasznahorkai viele von ihnen weg, so spart der Südafrikaner Coetzee nicht damit. Sparsamkeit ist nicht dasselbe wie: dünn.

„Der Pole“ ist wie der Pole ein literarisches Knochengerüst, auch am Polen ist etwas dran, als er schließlich auf Beatriz liegt und sie sein Geweicht spürt, kein tolles Gefühl. Mit seinen riesigen Händen kann er auf dem Klavier weit ausgreifen, knochig zu sein, heißt nicht, mickrig zu sein. Auch die Liebe is ja groß, ist riesig. Von seinem „vollen Herzen“ spricht er, von dem Frieden, den sie ihm schenkt (da muss sie lachen, wie ist das möglich, wie kann sie solche Gefühle auslösen). Liebe ist ein Fakt, so sehr Fakt, dass es nicht einmal ein Mysterium ist. Plattitüden – sie kann nur darüber staunen – müssen reichen, wo Worte ohnehin niemals reichen.

Auch wichtig: Er ist ein guter, aber womöglich kein genialer Pianist, und er ist vermutlich kein guter Minnesänger, wenn auch, was Seele und Gefühle betrifft, „beunruhigend undurchsichtig“. Sie ist damit zufrieden, „nichts Besonderes“ zu sein, und sie ist, wie uns eher der Erzähler zuwispert als Beatriz selbst, „intelligent, aber nicht nachdenklich. Ein Teil ihrer Intelligenz besteht im Bewusstsein, dass übertriebene Nachdenklichkeit den Willen lähmen kann“. Und „zufällig ist sie nicht für große, hoffnungslose Leidenschaften zu haben – es gehört offenbar nicht zu ihrer Konstitution -, aber das heißt nicht, dass sie große Leidenschaften bei anderen nicht bewundert“. Andererseits: „Es ist etwas Unnatürliches daran zu lieben, ohne dass man erwartet, wiedergeliebt zu werden.“ Auch klingt immer wieder eine zarte Enttäuschung ihrerseits an. „Sie hatte sich mehr erhofft“.

Wenn sie Beatriz ist, ist er dann Dante? Da kann sie ebenfalls nur lachen, er lacht nicht, vergleicht auch nicht Dante und sich, sondern Dantes und seine Liebe. Wenn „Der Pole“ doch in erster Linie ein Liebesroman ist, so zeigt sich die Liebe als mittelalterlich gleichgültige Dame von Welt, die sich niederlässt, wo sie will, nicht, wo das Niveau am höchsten und die Aussicht am besten ist. Auch Beatriz ist unsicher, ob der Pole in seinem schlechten Englisch tiefsinnige Sätze spricht oder wie ein Äffchen an der Schreibmaschine ab und an das richtige Wort trifft.

Unerwartetes geschieht und ändert die Richtung des Buches. Eine Versöhnlichkeit, die altersmilde und – so ergeht es Altersmilde ungerechterweise häufig – eine Spur trivial wirkt, liegt über den Schlusswendungen. Dabei spiegelt auch „Der Pole“ Coetzees unerbittlichen Blick auf die Zustände, hier überwiegend private Zustände unter „erwachsenen, zivilisierten“ Menschen. Bedenkt man allerdings, dass es im Roman immer wieder um Verständigung geht, hat das Ende auch eine zart zynische Seite. Erstaunlich, was Literatur alles kann.

*Judith von Sternburg: „Dieser undurchsichtige Umstand, der Liebe heißt“, Frankfurter Rundschau, 2. Juni 2023, Seite 26 [eigene Hervorhebungen]

>>J.M. Coetzee: Der Pole

 

 

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