Den Homosexuellen-Paragrafen gibt es nicht mehr, und seine Opfer werden rehabilitiert. Aber das genügt nicht. Bis zur echten Gleichstellung haben Politik und Gesellschaft noch viel zu tun, schreibt Christian Bommarius*:
Am 10. Mai 1957 bestätigte das Bundesverfassungsgericht die damals geltende Strafbarkeit der Homosexualität mit folgender Begründung: „Gleichgeschlechtliche Betätigung verstößt eindeutig gegen das Sittengesetz. Auch auf dem Gebiet des geschlechtlichen Lebens fordert die Gesellschaft von ihren Mitgliedern die Einhaltung bestimmter Regeln; Verstöße hiergegen werden als unsittlich empfunden und missbilligt. Allerdings bestehen Schwierigkeiten, die Geltung eines Sittengesetzes festzustellen.“
59 Jahr später kommt ein Rechtsgutachten, das im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes erstellt wurde, zum folgenden Ergebnis:
„Homosexuelle Handlungen sind unbestritten eine grundrechtlich geschützte Freiheitsentfaltung, deren – von niemandem ernstlich in Betracht gezogene – Rekriminalisierung offensichtlich einen unverhältnismäßigen und damit verfassungswidrigen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht darstellen würde.“
Zwischen den beiden Sätzen liegt nicht nur mehr als ein halbes Jahrhundert, die endgültige Beseitigung des berüchtigten „Schwulenparagrafen“ 175 Strafgesetzbuch im Jahr 1994 und der noch nicht beendete, aber immer aussichtsreichere Kampf für die Ehe für alle, auch Homo-Ehe genannt. Dazwischen lagen auch die strafrechtlichen Verurteilungen von Zehntausenden Homosexuellen, teilweise zu mehrjährigen Freiheitsstrafen, bis 1994. Seit Gründung der Bundesrepublik waren es rund 50 000 Verurteilte, die noch heute auf ihre Rehabilitierung und eine Entschädigung warten.
Die Schändlichkeit der Strafverfolgung von Homosexuellen in der Bundesrepublik manifestiert sich unübersehbar in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1957. Auch den höchsten Richtern war nicht klar, worin das von ihnen zitierte ungeschriebene Sittengesetz genau bestand. Unzweifelhaft war nur, dass Homosexualität dagegen irgendwie verstieß und jede Form der Diskriminierung rechtfertigte. Überliefert ist eine Entscheidung des Berliner Verwaltungsgerichts aus den 50er Jahren, die die Praxis der Behörden bestätigte, „den Führerschein solchen Bewerbern zu verweigern, die wegen begangener Sittlichkeitsdelikte vorbestraft sind“. Die wegen ihrer Homosexualität sanktionierten Führerschein-Bewerber würden als „sittlich labile Menschen“ leichte rückfällig, wenn sie über ein Kraftfahrzeug verfügten.
Ein Kuriosum, natürlich – nur eben nicht für die Betroffenen. Die Repressionen, mit denen die Justiz jahrzehntelang die Homosexuellen verfolgte, verletzten zigtausendfach die Menschenwürde, sie galten als legal, und sie fanden auch die Billigung der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung.
Die vor einigen Tagen von Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) vorgestellten Eckpunkte für ein Aufhebungsgesetz, das die Rehabilitierung und Entschädigung verurteilter Homosexueller vorsieht, kommt viel zu spät, denn Tausend Betroffene sind längst verstorben. Dennoch ist das Gesetz dringend geboten. Es hilft nicht nur den Überlebenden, sondern es ist auch das notwendige Schuldbekenntnis des Staates, die tätige Reue eines Täters, der im Namen des Sittengesetzes jahrzehntelang das Persönlichkeitsrecht und die Menschenwürde seiner Opfer systematisch verletzte.
Das Gesetz kommt zu spät, und doch kommt es ganz zur rechten Zeit. Wie einst in der Bundesrepublik werden bis heute in einigen Dutzend Staaten – vornehmlich in Afrika (Ausnahme: Südafrika) – Homosexuelle strafrechtlich verfolgt.
In vielen Ländern ist Homosexualität zwar nicht verboten, aber gesellschaftlich tabuisiert.
In Russland wird die Diskriminierung unter dem Etikett des strafrechtlichen Schutzes vor „homosexueller Propaganda“ betrieben.
In den USA – deren höchstes Gericht die Homo-Ehe im vergangen Jahr für alle 50 Bundesstaaten erlaubt hat – ist die Diskriminierung bis heute gesellschaftliche Realität, befeuert vor allem von „bibeltreuen“ Christen, den Evangelikalen.
Was den Hass Omar Mir Seddique Mateens auf Homosexuelle motiviert hat, ist nicht bekannt, aber es steht fest, dass es der Hass auf Homosexuelle war, der den Sohn afghanischer Einwanderer auf die Idee brachte, am 12. Juni in einem Schwulen- und Lesben-Nachtclub in Orlando (Florida) 49 Menschen zu ermorden und 53 zu verletzen.
Nicht jeder Hass tötet. In Deutschland begnügen sich Politiker und Politikerinnen der AfD, wie jüngst ein Thüringer Landtagsabgeordneter, damit, Homosexuellen „Dekadenz“ und „Perversion“ hinterherzurufen.
Die geplante Rehabilitierung verurteilter Homosexueller darf nur ein erster Schritt sein. Folgen müssen die Anerkennung der Ehe für alle und der grundrechtliche Schutz der sexuellen Identität. Nicht der Homosexuelle ist pervers, aber dumm und schamlos derjenige, der ihm die Normalität verweigert.
*Christian Bommarius, Leitartikel, Frankfurter Rundschau, 06.07.2016, 11.
Kommentieren