„… eine Schublade weniger!“

Intersexuelle Menschen können sich künftig mit einer eignen Bezeichnung in amtlichen Registern eintragen lassen. Tobias Peter* berichtet und kommentiert:

Die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Christine Lüders, würdigt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als „historisch“. Die Karlsruher Richter und Richterinnen hätten „in ihrem Beschluss eindeutig klargestellt, dass der Schutz vor Diskriminierung wegen des Geschlechts nicht nur für Männer und Frauen gilt, sondern auch für Menschen, die sich weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zuordnen“.

Worum geht es? Das Bundesverfassungsgericht hat in einem gestern veröffentlichten Urteil festgestellt: Es verstößt gegen das Grundgesetz, dass im Personenstandsregister bisher nur „männlich“ oder „weiblich“ als Geschlecht eingetragen werden kann. Und es trägt dem Gesetzgeber auf, intersexuellen Menschen eine Möglichkeit zu eröffnen, ihre geschlechtliche Identität eintragen zu lassen. Eine Neuregelung soll der Gesetzgeber nach dem Willen der Richter bis spätestens Ende 2018 schaffen (Az. 1 BvR 2019/16).

Laut Schätzungen des Lesben- und Schwulenverbandes [LSVD] leben etwa 100 000 Intersexuelle in Deutschland. Das sind Personen, die mit körperlichen Merkmalen geboren werden, die von der Medizin als „geschlechtlich nicht eindeutig“ eingestuft werden. Ein Teil von ihnen betrachtet sich selbst als Mann oder als Frau. Viele tun genau dies aber eben nicht, sondern sehen sich als Menschen mit einer ganz eigenen geschlechtlichen Identität.

Genau deshalb hat eine intersexuelle Person namens Vanja geklagt, um die Eintragung eines dritten Geschlechts im Personenstandsregister durchzusetzen. In der Vergangenheit wurden die Menschen dort einfach als „männlich“ oder als „weiblich“ eingetragen – auch wenn sie weder das eine noch das andere eindeutig waren. Deswegen galt es als Fortschritt, dass ab 2013 der Eintrag offenbleiben durfte. So wurden Intersexuelle nicht mehr zwangsweise in eine Schublade gesteckt, die viele nicht als die eigene empfanden. Die einzige Alternative, die sich hatten war aber bislang gewissermaßen eine Schublade ohne Aufschrift. Als gäbe es sie gar nicht, als müsste man sie möglichst verschweigen.

Diese Praxis hat das Bundesverfassungsgericht jetzt verworfen. „Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt auch die geschlechtliche Identität“, schrieben die Richter und Richterinnen des Ersten Senats in ihrer Urteilsbegründung, deren Entscheidung mit sieben zu eins fiel. Der Zuordnung zu einem Geschlecht komme für die individuelle Identität herausragende Bedeutung zu. Sie nehme eine Schlüsselposition im Selbstverständnis einer Person ein – aber auch darin, wie diese Person von anderen wahrgenommen werde. Mit Blick auf das Grundgesetz befindet das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich: „Dabei ist auch die Identität jener Personen geschützt, die weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen sind.“

Wie die neue Bezeichnung lautet, ist noch unklar

Bundesfamilienministerin Katarina Barley (SPD) begrüßte das Urteil des Verfassungsgerichts. Die Umsetzung „muss von der neuen Regierung umgehend angegangen werden“, so Barley. [Sie ist bekanntermaßen jetzt nur noch geschäftsführend im Amt und wird dem neuen Kabinett nicht mehr angehören, wenn die Bildung einer Jamaika-Koalition aus Union, FDP und Grünen gelingt].

Das unionsgeführte Innenministerium wiederum verwies darauf, dass das Verfassungsgericht dem Gesetzgeber eine Frist von mehr als einem Jahr eigeräumt hat. Wie genau eine Neuregelung aussehen wird, ist noch unklar. Das Verfassungsgericht macht hier keine konkreten Vorgaben, was den Begriff für das dritte Geschlecht angeht. Die klagende Person hatte „Inter/divers“ vorgeschlagen. Als „historisch“ würdigte die Antidiskriminierungsstelle des Bundes das Urteil auch deshalb, weil es sozusagen amtlich klarmacht: Es gibt mehr als zwei Geschlechter – und damit muss der Gesetzgeber umgehen, ob es ihm nun behagt oder nicht. Oder wie das Gericht es ausdrückt: Das Grundgesetzt gebietet nicht, den Personenstand hinsichtlich des Geschlechts ausschließlich binär zu regeln.“

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International nannte das Urteil einen „wichtigen Schritt“, wies aber darauf hin, dass damit noch nicht alle Probleme in Sachen Diskriminierung gelöst seien. „Noch immer werden Kinder mit Variationen der Geschlechtsmerkmale ohne akute medizinische Notwendigkeit operiert oder überflüssigen Behandlungen unterzogen, um sie dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zuzuordnen“, sagte Maja Liebing, Expertin der Menschenrechtsorganisation für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender und Intersexuellen. Die Grünen forderten, geschlechtsanpassende Operationen an minderjährigen Intersexuellen müssen grundsätzlich verboten sein – solange diese nicht einwilligungsfähig sind.

*Tobias Peter, Frankfurter Rundschau, 09.11.2017, Seite 4.

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