‚Brasilien‘ steht auch für eine vom Staat organisierte soziale Ungleichheit, beschreibt Ulrike Mann: Wenn von der „Brasilianisierung“ bei uns die Rede ist, geht es weniger um etwa eine erhöhte Nachfrage nach Sambakursen, als um die negativen Auswirkungen der neoliberalen Globalisierungspolitik.
Eingeführt wurde der Begriff bereits Ende der 1990er Jahre vom Soziologen Ulrich Beck. Er entwarf die Kurzformel „Brasilianisierung des Westens“ für den von ihm vermuteten sozialen Wandel Europas in Richtung einer zunehmenden sozialen Ungleichheit. Aktuell wird dieses Szenario insbesondere von Franz-Josef Radermacher, Mitglied des ‚Club of Rome‘, in die Öffentlichkeit getragen. Sein Szenario will aufzeigen, dass bei einem ungehemmten, auf reines Wirtschaftswachstum ausgerichtetem „weiter so“ in absehbarer Zeit in den europäischen Staaten ein Entwicklungsrückgang einsetzen wird, der durch eine Zerrüttung der Mittelschichten, eine Öffnung er Einkommensschere und durch Armutsszenarien gekennzeichnet ist, die wir bislang nur aus Ländern des globalen Südens kennen.
So sagt er: „Unsere heutige Globalisierung ist so organisiert, dass sich die wesentlichen Wertschöpfungssegmente weitgehend der Besteuerung entziehen. Damit geht dem Staat wertvolles Steuervolumen verloren. Die Umwelt leidet, weil Rohstoffe viel zu billig sind. Gleichzeitig geht Arbeit dorthin, wo die Löhne und Arbeitsstandards am niedrigsten sind.“
Damit gehen zum einen Arbeitsplätze und damit Einkommen und Steuern verloren, und den Preis für die langfristige Zerstörung der Umwelt zahlen die Menschen vor Ort. Das Geld wiederum fließt nur in geringem Maße zu den Armen in den Entwicklungsländern, der größte Teil des Geldes geht zu wenigen Menschen in reichen Ländern (und Einzelnen in armen Ländern). Die Umverteilung geht zu Lasten der meisten Menschen in den reichen Ländern. Am Ende ergibt das einen Globus mit einer ökonomischen Struktur, bei der Arm und Reich nicht mehr im Wesentlichen über die Länderstrukturen verteilt sind wie bisher, sondern es gibt überall, in jedem Land, die wenigen Prozent Reiche, und alle anderen werden ärmer. Nach Radermacher kann man das als positive Entwicklung in Richtung eines weltweiten Ausgleichs sehen, allerdings nur um den Preis des Rückbaus des erreichten Niveaus an sozialem Ausgleich in den reichen Ländern.
In Zahlen ausgedrückt heißt das, Brasilien ist Vorreiter der innerhalb eines Lanes organisierten sozialen Ungleichheit unter den großen Wirtschaftsnationen mit einem Verhältnis von 20 Prozent der Bevölkerung, die 65 Prozent des Einkommens besitzen. Das heißt, 80 Prozent müssen sich dort mit 35 Prozent des Kuchens begnügen. In Deutschland liegt der Anteil bei etwa 60 Prozent. Eine Brasilianisierung würde also bedeuten, dass sich für alle, die nicht zu den oberen 20 Prozent gehören, ihr derzeitiger Lebensstandard auf etwa die Hälfte absenkt.
Quelle: welthaus bielefeld info, mai-november 2014, Seite 16. [Ulrike Mann ist Geschäftsführerin des Welthaus Bielefeld].
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