„Die ungerechte Verteilung des globalen Reichtums ist eine Folge von Kriegen und Kolonialismus. Forderungen nach finanziellem Ausgleich haben gute Gründe.“ (Richard Meng*)
Vielleicht waren wir naiv, jahrzehntelang. Fühlten uns verantwortlich, aber eben moralisch. Wir nachgeborenen Deutschen, die wir vom Entsetzen geprägt bleiben wegen der Verbrechen der Vorgängergenerationen. Die wir unreparierbare Schuld empfinden und wissen, wie sehr es auf das „Nie wieder“ ankommt.
Mit Griechenland fing es an. Plötzlich war da, lange Zeit danach, bei einigen in Athen von immer noch ausstehenden Reparationen die Rede. Die Berliner Diplomatie reagierte betont leise: Das Thema sei völkerrechtlich längst erledigt, es handele sich nur um innenpolitische Profilierung in Athen. Dann war ein paar Jahre Ruhe. Jetzt, da in Polen Wahlen anstehen, taucht das Geldthema plötzlich dort auf. Mit innenpolitisch durchschaubaren Motiven. Trotzdem: mit System.
Vielleicht muss man aber auch gedanklich weit weg gehen von den einzigartigen Nazi-Verbrechen, um die Dimension zu verstehen. In ehemaligen europäischen Kolonien, vor allem im Süden Afrikas, gibt es mehr und mehr die Debatte, ob es richtig sein kann, dass die Reichtumsverteilung sich nach wie vor am alten kolonialen Erbe orientiert. Ländereien gehören Erben der Kolonialherren, die Nachkommen der Kolonisierten sind überwiegend arm.
In Australien bewegt nun ein Referendum das Land, das auf eine bessere Beteiligung der Aborigines an den politischen Entscheidungsprozessen zielt. Ob das vorgeschlagene Zusatzgremium neben dem Parlament nötig ist oder nicht, wird kontrovers diskutiert – aber dahinter steht eine größere Frage. Auch dort ist das reale Reichtumsgefälle eine unreparierte Folge vergangener Zeiten. Ginge es gerecht zu, hätten die Nachkommen jener Europäerinnen und Europäer, die eins den Kontinent eroberten, viel zu verlieren. Ein Vorbote nur für künftige Debatten, bis in die USA hinein?
Es geht da plötzlich weltweit nicht mehr nur um Moral und historische Verantwortung. Es geht, offenbar zunehmend, auch ums Materielle im Hier und Jetzt. Richtig überraschend kommt das nicht, eher überraschend spät. Zumal stets dann, wenn es um die Anerkennung von historischen Massakern als Völkermord ging, schon lange im Hintergrund die Juristenfrage im Raum stand, ob eine solche Anerkennung absehbar Schadensersatzforderungen nach sich ziehen würde. Und sei es hundert Jahre später, wenn die direkt Geschädigten längst nicht mehr leben.
Es ist eine der großen Lebenslügen im reichen Norden, dass man mit dem Ende des Kolonialismus auch dessen soziale Folgen auf sich beruhen lassen kann. Diese große, weltweite Fragestellung überwölbt manche aktuelle Debatte rund um Restitution von Beutekunst, Angriffskriege, Flucht und Vertreibung – und nicht nur nach weit hinten gerichtet, siehe Ukraine. Eine Debatte letztlich um die Ursachen für unterschiedliche Wohlstandschancen. Was klassisch mit Reparationen gemeint war, die zeitnahe Begleichung von Kriegsschäden, ist etwas viel Einfacheres.
Die reale historische Gerechtigkeitsfrage ist nirgendwo erledigt, zwischengesellschaftlich wie innergesellschaftlich. Was bedeutet, wenn nicht späte Ablasszahlungen die Lösung sind: Echte Gerechtigkeitspolitik muss den Aspekt der sozialen Umverteilung für die Zukunft sehen. Zumal ja auch demokratische Gesellschaften immer wieder in Ungleichheit erstarren. Weil es mit der Zeit nicht leichter, sondern noch schwieriger wird, sich aus prekärer Lage herauszukämpfen.
Auch wer auf politisch billige Geldforderungen schimpft, sollte diese größere Dimension nicht ignorieren. Die Anhäufung von Reichtum in einer hochgradig von Armut geprägten Welt hat immer ihren Vorlauf. Wenn nun mancherorts vom späten Bußgeld die Rede ist, repariert das noch nichts. Eine kluge Debatte darüber könnte die eine oder andere Sehschwäche helfen zu überwinden. Für den Blich nach vorne.
*Richard Meng ist freier Autor und Kuratoriumsvorsitzender der Karl-Gerold-Stiftung. Quelle: Frankfurter Rundschau,19. Mai 2023, Seite 10, [Hervorhebungen, Ben Khumalo-Seegelken]
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