Ursula Rüssmann*:
Perfider Asyl-Plan
Vielen Flüchtenden wird künftig im Regelfall und ganz offiziell der Zugang zu rechtsstaatlichen Asylverfahren verwehrt. Das ist ein fataler Sieg für die Rechts-Regierungen in der EU.
Was Bundesinnenministerin Nancy Faeser am Donnerstagabend [08.06.2023] als „historischen Erfolg … für den Schutz von Menschenrechten“ gefeiert hat, ist für den internationalen Flüchtlingsschutz in Wahrheit das Gegenteil – ein verheerend düsterer Tag. Man muss von einer Zeitenwende sprechen, denn die Europäische Union schickt sich mit ihrer Einigung auf ein „Gemeinsames Europäisches Asylsystem“ (Geas) an, Flüchtenden künftig im Regelfall und ganz offiziell den Zugang zu einem rechtsstaatlichen Asylverfahren zu verwehren.
Was auf Griechenlands Inseln, am Evros oder in litauischen Grenzlagern schon heute brutaler Alltag ist, wird kollektive Politik der EU. Damit ist die Tür deutlich mehr als einen Spaltbreit geöffnet für Europas Abkehr von den Werten der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und auch der Europäischen Menschenrechtskonvention. Ein fataler Sieg für die Rechts-Regierungen in der EU.
Das mag übertrieben dramatisch klingen, aber der Tabubruch wird am Einzelfall offensichtlich.
°Was würde etwa der kurdischen Iranerin Mahsa Amini unter dem beschlossenen Geas-System passieren, wenn sie nicht von den Schergen des iranischen Regimes wegen eines fehlenden Kopftuchs erschlagen worden wäre, sondern die Flucht an eine EU-Außengrenze schaffen würde?
°Welche Chance auf Schutz hat künftig noch ein Homosexueller aus Nigeria, der vor drohender Haft in seiner Heimat über Tunesien nach Europa flieht?
°Oder die Demokratieaktivistin aus Syrien oder Hongkong?
Sie alle, das ist die Botschaft aus Luxemburg, sind in der EU nicht mehr willkommen. Offene Türen für Verfolgte in Europa werden zur Ausnahme herunterdefiniert, indem Geas bestimmt:
Wer über einen sogenannten sicheren Drittstaat kommt, soll in der EU möglichst kein Asylverfahren mehr bekommen, egal wie verfolgt er oder sie in der Heimat sein mag.
Für den Schutz dieser Verfolgten sollen vielmehr die „sicheren Drittstaaten“ zuständig sein. Indem die ER zudem die Maßstäbe für die „Sicherheit“ solcher Länder derart aufweicht, dass künftig auch die Maghrebstaaten, die Türkei, womöglich sogar Teile Libyens und das repressiv regierte Ägypten als „sichere Drittstaaten“ gelten können, brechen sie offen mit den Maßstäben des internationalen Flüchtlingsrechts und der GFK.
Die Absicht der EU-Staaten ist klar:
Weil sie sich untereinander seit Jahren nicht auf einen Verteilmechanismus einigen konnten, soll eben ein geschlossener Drittstaaten-Kordon möglichst alle von der EU fernhalten, die ansonsten guten Chancen auf Schutz hätte.
Mahsa Amini und der syrische Demokratieaktivist hätten demnach wohl hur Aussicht auf ein rechtsstaatliches Asylverfahren, wenn sie in ihrer Heimat einen Direktflug in die EU nehmen könnten – genau das aber können Verfolgte bekanntlich nicht.
Nicht minder perfide ist der Beschluss, Geflüchtete aus Herkunftsstaaten mit Anerkennungsquoten von unter 20 Prozent pauschal einem rechtsstaatliche zweifelhaften Grenzverfahren und monatelanger Internierung zu unterziehen. So werden Geflüchtete systematisch kriminalisiert.
Es ist davon auszugehen, dass das EU-Parlament, das dem Paket noch zustimmen muss, die ein oder andere Änderung durchsetzen wird. Gekippt wird Geas wohl kaum.
Dennoch:
Die, die jetzt jubeln, weil sie auf weniger ungeregelten Zuzug Geflüchteter hoffen, werden enttäuscht werden. Es ist absehbar, dass der beschlossene schwache Umverteilungsmechanismus kaum funktionieren wird. Und die Aussicht Flüchtender, in haftähnlichen Lagern zu landen oder gleich zurückgeschoben zu werden, wird die Dienste krimineller Schlepperbanden noch attraktiver machen.
Spannend wird sein, welchen Preis die EU zu zahlen bereit ist, um potenzielle „sichere Drittstaaten“ zur Aufnahme Zurückgewiesener zu bewegen. Es drohen weitere Dammbrüche beim internationalen Menschrechtsschutz – wie es auch beim (nicht funktionierenden) EU-Türkei-Deal bereits der Fall war.
Für die deutsche Ampel-Koalition, vor allem die Grünen, ist die Entwicklung ein Glaubwürdigkeits-Gau. Denn sie hatte im Koalitionsvertrag das genaue Gegenteil versprochen, nämlich eine deutlich humanere Flüchtlings- und Asylpolitik. In den nächsten Monaten und Jahren muss sie nun wohl die härteste Asylrechtsverschärfung seit Jahrzehnten in nationales Recht umsetzen. Die Union und die rechtsextreme AfD werden dabei jede Gelegenheit nutzen, sich als Anwälte der Brüsseler Beschlüsse zu inszenieren und flüchtlingsfeindliche Ressentiments zu schüren.
Kirchen, Zivilgesellschaft, die linke Basis bei Grünen und SPD sind in die Defensive geraten.
Deutschland und Europas Demokratien insgesamt steht damit ein regelrechter Kulturkampf bevor, um die Geltung von Flüchtlings- und Menschenrechten – und letztlich um die Zukunftsfähigkeit ihrer Humanität.
*Ursula Rüssmann: Perfider Asyl-Plan, Leitartikel, Frankfurter Rundschau, 11. Juni 2023, Seite 15 [eigene Hervorhebungen]
Lieber Ben,
abgesehen davon, dass das europäische Umfeld schwierig für gute Kompromisse ist, frage ich mich, wie eine sinnvolle Ausgestaltung des Asylrechts aussehen könnte.
Ich glaube nicht, dass jeder Antragsteller sich durch alle Instanzen des Rechtssystems klagen sollte. Schnelle Entscheidungen erscheinen mir erforderlich.
Ich sehe auch nicht, dass Asylverfahren geeignet sind die Ungerechtigkeit der Welt zu bekämpfen. Und ich gestehe auch unserem Land zu den Zugang zu verwehren.
Ich weiß nur nicht, wie trotzdem eine menschliche Politik gemacht werden kann.
Würdest Du die Grenzen öffnen? Für wen und für wen nicht?
Soweit ganz kurz,
lieben Gruß Michael
Lieber Michael,
genauso wie Notausgänge in Gebäuden sollen Fluchtwege an Landesgrenzen stets offenbleiben. Politisch Verfolgte sollen ungehindert fliehen und gerettet werden können; Zuflucht soll jedem Flüchtenden gewährt werden. Artikel 16 des Grundgesetzes in der Fassung vor der ersten Änderung durch die Helmut-Kohl-Regierung bringt es auf den Punkt: „Politisch Verfolgte genießen Asyl“.
Menschenrechtsverpflichtete Asylpolitik ist in der Bundesrepublik Deutschland Jahrzehnte lang bewährte Praxis gewesen. Die wiederholte Aushöhlung der letzten Jahrzehnte unter Helmut Kohl und Angela Merkel erfährt durch den derzeit unternommenen EU-Schulterschluss gegen Zufluchtsuchende eine beschämende Verschlimmerung, die Geist und Buchstabe des Grundgesetzes zuwider ist.
PRO ASYL und andere Menschenrechtsorganisationen für die Wahrung des Rechts Geflüchteter werden hoffentlich auch die Bundesregierung dafür gewinnen, menschenrechtsverpflichtete Asylpolitik im Geiste des Grundgesetzes voranzutreiben und entgegengesetzten machtpolitischen Versuchen und Maßnahmen zur Abschreckung und Entrechtung Zufluchtsuchender eine Absage zu erteilen und ihnen entschieden entgegenzuwirken.
So weit so kurz, lieber Micha.
Dein Ben 😊
danke Dir Ben, den Kommentar in der FR hatte ich studiert; hoffen wir, dass proteste von uns und proasyl und kirchl. Einrichtungen Druck ausüben können, dass die Regierung und EU Parlament korrigieren, sonst stehen uns noch ungemütlichere Zeiten in der Flüchtlingskrise bevor, machs gut, Erich
Bei PRO ASYL arbeiten wir daraufhin, dass hierzulande und möglichst europaweit die Rechte der Flüchtenden und Geflüchteten geachtet, geschützt und verwirklicht werden – gerade in diesen Zeiten!
Lieber Ben,
ich hoffe dir geht es gut!
Vielen Dank für den Artikel! Ich kenne noch nicht in alle Details zu der Einigung, aber ich bin mit der Meinung der Autorin des Artikels so jedenfalls nicht einverstanden.
Es gibt, soweit ich das sehe, Verbesserungen und Verschlechterungen in dieser Einigung, und ich hoffe, dass bei den Verschlechterungen noch etwas verbessert werden kann. Aber der Artikel ist mir zu einseitig, die Rechts-Regierungen Europas z.B. sehen das übrigens überhaupt nicht als einen Sieg an, sondern sind ebenfalls unzufrieden.
Ich grüße dich heute erstmal sehr, eine gute Woche euch, Michael
Lieber Micha,
ich teile die Auffassung und die Einschätzung der Autorin ganz und gar, deshalb setze ich mich unverzüglich mit Olaf Scholz in Verbindung, um dahingehend zu wirken, dass die Bundesrepublik Deutschland die Europäische Union dafür gewinnt, dazu anspornt und dabei unterstützt, dass die Rechte von Fliehenden und Geflüchteten hierzulande und europaweit auch in Zukunft geachtet, geschützt und verwirklicht werden.
Liebe Grüße – auch von Ubbo!
Dein Ben
Hallo Ben,
nun habe ich gelesen, was Du geschrieben hast.
Natürlich möchten alle Menschen ein besseres Leben haben, aber was erwarten sie, wenn sie nach Europa kommen? Erst die Sprache lernen, andere Lebensgewohnheiten. Wo werden sie wohnen? Das ist alles so schwierig für alle Beteiligten. Kinder müssen im Kindergarten oder Schulen, Mütter wollen ihre Kinder versorgen. Wie soll das praktiziert werden? Männer müssen Geld verdienen, wo und wie?
Auch hier gibt es schon weniger Erzieherinnen in den KIGas, weil sie es mit der Arbeit in den Einrichtungen nicht mehr schaffen.
Meiner Meinung nach muss darüber nachgedacht werden. Ich kann es nur aus meiner Sicht schreiben.
LG Aaltje, auch an Ubbo.
Moin Aaltje,
Danke für die Rückmeldung und für den Gruß.
In dieser Kontroverse geht es nicht um die Menschen, die einwandern wollen – Migrantinnen und Migranten; es geht um die Menschen, die auf der Flucht sind und um Rettung und Schutz bitten – um das Recht der Flüchtenden und Geflüchteten, das Flüchtlings- und Asylrecht geht es.
Mitgliedstaaten der Europäischen Union schließen sich zusammen und wollen Menschen auf der Flucht davon abhalten und ihnen erschweren, dass sie von ihrem Recht Gebrauch machen, einen Antrag auf Asyl zu stellen. Dagegen protestiere ich. Ich verlange, dass das Recht auf Schutz vor Verfolgung unangetastet bleibt. Menschen auf der Flucht sollen auch in Zukunft gerettet, aufgenommen und geschützt werden – bei uns in Deutschland allzumal und in Europa erst recht!
Darum geht’s und darum geht’s mir!
Liebe Grüße – auch von Ubbo!
Ben
Hallo Ihr Lieben,
Ja, das sehe ich ganz genauso.
Waren wir vor ein paar Jahren noch meilenweit entfernt in der Grenzhandhabung von Staaten wie Polen oder Ungarn, nähern wir uns diesem Unsinn nun gefährlich an.
Ich erinnere mich noch gut an den Winter bevor der Ukrainekrieg losging, und hier mitten in Europa zwischen Polen und Weißrußland Geflüchtete aus dem nahen Osten wegen herandräuender Zwistigkeiten der entstehenden Machtblöcke, eben mitten zwischen diese Blöcke gerieten, und von beiden Seiten alleingelassen, gnadenlos mitten im Wald erfrieren durften. In den Winternächten als es so kalt wurde, konnte ich nicht schlafen in meinem warmen Bett, weil ich die ganze Zeit an die Geflüchteten im Wald denken mußte. Es war zudem mit Händen zu greifen, daß hier ein größerer Spalt entstand, als nur eine unterschiedliche Haltung zweier Länder zum Flüchtlingsthema.
Die von Polen dann hochgezogene wahnsinnig hohe Stacheldrahtrolle und der folgende Grenzwall sind kaum noch glaubwürdig als reiner Anti-Flüchtlingswall auszugeben. Mir war gleich klar: Das wird eine neue Blockgrenze. Dieser Wall soll sicher noch vor ganz anderen Menschenmassen schützen.
Er führt übrigens mitten durch den letzten europäischen Urwald von Bialowiesza. Was die als europäisches Friedensprojekt geförderten, dort frei umherstreifenden Wisente wohl dazu sagen? Sie sollten die Völkerfreundschaft in einem grenzenlosen Europa unterstreichen.
Mit traurigen Grüßen,
Jörn