INTERVIEW: Landesbischof Meister zur judenfeindlichen Schmähplastik an der Fassade der Stadtkirche in Wittenberg

Ralf Meister, Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers, hat mit seiner Äußerung für Aufsehen gesorgt: Der hannoversche Landesbischof forderte bei einer Diskussion in Hannover, die judenfeindliche Schmähplastik an der Fassade der evangelischen Stadtkirche in Wittenberg zu zerstören. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst begründet und bekräftig Meister nun seine Aussage.

Herr Meister, zum Reformationstag haben Sie mit sehr scharfen Worten die Entfernung der sogenannten „Judensau“ gefordert, einem antisemitischen Relief aus dem Mittelalter an Martin Luthers Predigtkirche. Da war von „vernichten, zerstören und kaputtmachen“ die Rede. Woher diese Schärfe?

Ralf Meister: Ich selbst habe lange Zeit viel Verständnis dafür gehabt, dass man diese Plastik als Lernobjekt mit einer Texttafel versehen an der Fassade dieser Kirche belassen könnte. Aber in vielen Gesprächen mit Jüdinnen und Juden ist mir zunehmend klar geworden, dass dieses Objekt auch heute noch als extreme Diskreditierung und Diffamierung ihres Glaubens auf schäbigstem Niveau wahrgenommen wird. Allein schon die Bezeichnung, die wir dafür verwenden, ist eine massive und immer noch aktuelle antisemitische Provokation, die jeden gläubigen jüdischen Menschen zutiefst treffen kann. Es ist eine legendige Beleidigung. Bei allem Respekt dafür, wie differenziert die Gemeinde damit verfährt, sollte man überlegen, ob solche Objekte nicht nur entfernt, sondern einzelne dieser Objekte auch beispielhaft zerstört werden können.

Ist das eine neue Art des protestantischen Bildersturms?

Nein! Martin Luther war, ja, der Meinung, man könne bestimmte veraltete Bilder und Skulpturen als Lernobjekte akzeptieren. Aber man muss hier unterscheiden. Es gibt Objekte, die in einem historischen Kontext stehen und mit dieser Distanz der Geschichte auch so wahrgenommen werden. Doch dieses Objekt beleidigt Angehörige der jüdischen Religion bis heute in einer unglaublichen Weise.

Um es klar zu sagen: Wir haben in unserem Land Tausende und Abertausende an Lernobjekten, an denen wir uns mit der unsäglichen Geschichte des Antisemitismus und des Antijudaismus auseinandersetzen können. Es geht mir nicht darum, das alles zu vernichten. Es geht darum, genau wahrzunehmen: Wo werden durch diese Objekte Menschen in ihrem Glauben heute zutiefst herabgewürdigt? Wo gewöhnen wir uns daran, diese Objekte als befremdlich zu bezeichnen, sonst aber keine Konsequenzen zu ziehen?

Aus der Sicht der Erbauer im Mittelalter war die Schmähplastik auch ein Ausdruck von Architektur und Kuns. Kann man das so einfach kaputtschlagen?

Ja. Ich weiß, dass eine solche Forderung einen lauten Aufschrei unter Denkmalpflegern, Historikerinnen und vielen anderen Menschen erzeugt. Ich kann das auch verstehen. Und dennoch kann ich mir vorstellen, dass in einer zivilisierten, wachen und religionssensiblen Gesellschaft ein solcher Vorgang ein kraftvolles Zeichen sein kann. Eine Gesellschaft, die den Lernprozess der Erinnerungsarbeit durchgemacht hat und immer wieder durchmachen wird, kann auch einen Entschluss fassen, einige wenige, zutiefst beschämende materialisierte Beleidigungen der religiösen Existenz von Jüdinnen und Juden zu vernichten.

So ähnlich wie mit den Büsten von Marx und Lenin und anderen Relikten des Sozialismus, über deren Verbleib ja intensiv gestritten wird?

Mit schnellen Parallelisierungen werden wir der Sache nicht gerecht. Was ich beschrieben habe, kann man auf kein anderes Objekt beziehen. Hier geht es nicht darum, dass ein einzelner Mensch dargestellt wird. Sondern es wird ein Sachverhalt dargestellt, der in ekelerregender Weise mit einer zutiefst antisemitischen Schmähung unter Zuhilfenahme eines Tieres, das im Judentum als unrein gilt, Menschen in ihrem Glauben entwürdigt.

Die Wittenberger Kirchengemeinde hat beschlossen, die Plastik an ihrem Ort zu belassen und durch eine Texttafel zu einer Mahnstätte zu machen. Ist Ihnen das zu lasch?

Der Bischof der mitteldeutschen Kirche, Friedrich Kramer, hat es eindeutig gesagt: Eine Beleidigung bleibt eine Beleidigung – wie oft Sie es auch erklären.

Würde es nicht genügen, das Relief zu verhängen, durch ein Tuch oder so?

Warum?

Weil es aus der Geschichte zu uns überkommen ist.

Wenn Sie mit einem Denkmalpfleger reden und sich Gebäude aus dem 13. Jahrhundert anschauen, dann werden Sie die wenigsten unverwundet vorfinden. Dann werden Sie zahlreiche Ergänzungen, Erweiterungen, Abbauten, Umbauten, Teilabrisse, Neubauten darin entdecken. Wir kommen aus einer Menschheitsentwicklung, die Gebäude und Denkmäler überformt hat und sie darin radikal veränderte. Heute gibt es den Ansatz, dass man Dinge zwangsläufig in möglichst ursprünglichem Zustand erhalten möchte. Das würde ich aber eben sich in allen Fällen absolut setzen.

Was haben Sie dagegen, diese Schmähplastik in ein Museum zu verfrachten? Wäre sie da nicht gut aufgehoben?

Warum soll ich eine Schmähplastik, die eine tiefe Beleidigung einer religiösen Überzeugung ausdrückt, dann noch für alle Leute im Museum ausstellen? Damit dann alle wissen: So haben wir das mit den Juden mal gemacht? Das kann man schon an Tausenden Objekten lernen, an unzähligen digitalen Darstellungen sehen, in Bildern, in Filmen, an Stolpersteinen und überall. Mir geht es darum, dass wir ernst nehmen, dass steingewordenen Schmähungen bis heute Verletzungen bei Menschen auslösen. Es reicht dann aus meiner Sicht nicht aus, eine Erklärtafel aufzustellen. Und manchmal eben auch nicht, sie nur abzunehmen und ins Museum zu stellen.

Quelle: Evangelische Zeitung (EZ), 13.November 2022,Seite 15

Ben Khumalo-Seegelken

11.11.2022

 

6 Kommentare zu diesem Artikel bisher »

Kommentare zu »INTERVIEW: Landesbischof Meister zur judenfeindlichen Schmähplastik an der Fassade der Stadtkirche in Wittenberg«

  1. Lieber Ben,

    vielen Dank für die Übersendung dieses Interviews. Dass sich ausgerechnet ein evangelischer Bischof für einen neuen Bildersturm stark macht ist für mich äußerst schockierend. Seine Argumentation mag einer noblen Bewegung entspringen: Er will ein drastisches Zeichen gegen Judenfeindlichkeit setzen. Die Umsetzung dieses Zeichens erinnert mich allerdings fatal an die Argumentation des IS, der verkündete, die Tempel und Statuen der „Götzen“ Palmyras seien eine Beleidigung des Islam und gehörten demonstrativ mit Vorschlaghammer und Sprengstoff erledigt. Anderer Kontext und andere Wertigkeit, gewiss, aber das Grundmuster “ Historisches Objekt muss mit Rücksicht auf moderne religiöse Befindlichkeiten vernichtet werden“ ist identisch. Mir persönlich ist da ein anderer Umgang mit antijüdischen Objekten viel sympathischer: Als 1948 der Staat Israel gegründet wurde, zogen die Rabbiner Roms unter den Titusbogen (den man, folgte man Meister, wohl erst recht sprengen müsste) und stießen zur Feier des Tages in die Shofarim.

    Herzlich

    Peter

    • Lieber Peter,

      für deine Rückmeldung und deine Stellungnahme zur Nachricht über die Anregung des Hannoverschen Landesbischofs zur judenfeindlichen Schmähplastik and der Fassade der evangelischen Stadtkirche in Wittenberg danke ich dir.

      Ralf Meister erhält demnächst von mir meine Stellungnahme, dass ich seine Anregung vollumfänglich begrüße und nach Kräften dazu beitragen will, dass sie bald verwirklicht wird.

      Ich meine: Niemals und nirgends wird welche Untat auch immer ungeschehen gemacht werden können – selbst diese Schmähplastik nicht.

      Heute werden Menschen guten Willens hierzulande und weltweit Hass und Menschenfeindlichkeit h o f f e n t l i c h stets früh genug erkennen, sich effektiver und nachhaltiger dagegen einsetzen und alledem viel Positiveres entgegensetzen (können).

      Miteinander die judenfeindliche Schmähplastik öffentlichskeitswirksam e n t f e r n e n e n und sie symbolträchtig zu z e r s t ö r e n, Wird bestimmt wesentlich dazu beitragen können, dass Menschen hierzulande und heutzutage einfühlsamer, umsichtiger, solidarisch und weitsichtiger miteinander lebten.

      Lieben Gruß!
      Dein Ben

  2. Scheinbar gibt es sie:
    Alte, weiße Männer, die kluge Dinge sagen…

  3. Lieber Ben,

    wird Zeit, dass auch die lutherischen Kirchen zu ihrer antisemitischen Vergangenheit stehen!

    Nicht vergessen, Luther war ein Judenhasser!

    Luthers Schriften galten im deutschen Protestantismus meist als maßgebend. Seine späteren „Judenschriften“ wurden einige Male für lokale Aktionen gegen Juden benutzt. Antisemiten benutzten sie ab 1879 zur Ausgrenzung von Juden. Nationalsozialisten und Deutsche Christen (DC) legitimierten damit die staatliche Judenverfolgung, besonders die Novemberpogrome 1938. Große Teile der damaligen Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) stimmten dieser Verfolgung zu oder schwiegen dazu.

    … … Bild: „Von den Juden und ihren Lügen“, Dr. Martin Luther, 1543

    Liebe Grüße auch an Ubbo und schönes Wochenende!

    Norbert

  4. Hallo Ben,

    Tja. Ich habe die Stellungnahme des hannoverschen Landesbischofs gelesen und kann mich dem gar nicht anschließen.

    Selbstverständlich: Die Plastik ist eine ständige, widerliche Beleidigung. Auf jeden Fall.

    Aber ich als Homosexueller und Künstler zum Beispiel kann sagen, daß es aus der entsprechenden Zeit des Spätmittelalters
    eine Fülle von derben Schmähdarstellungen auch der „satanischen“ Homosexuellen gibt. Meist unter dem Thema der Versuchung irgendeines Bischofs wird mit enghosigen, prallen Satanspersonen Tafelbild gemalt. Diese Bilder gehören zu meiner Geschichte als Homosexueller mit der Kirche. Auch sie sind eine ständige Beleidigung, weil man dem Bereich Satans oder des Tieres zugeordnet wird. Aber ich würde mich überhaupt nicht freuen, wenn die Kirche auf die Idee käme, diese Bilder auf einmal in den Müll zu stopfen oder zu übermalen.

    Man merkt eben, daß Kirchenleute oft keine Erfahrung im Umgang mit Bildwerken oder durch Bilder hervorgerufene Probleme haben.
    Sie bewerten diese Vorgänge moralisch. Das kann manchmal gut sein, führt aber ganz häufig auch zu nichts oder sogar zu Schlimmerem.
    Die Not der Kirche führt ihre Oberhäupter jetzt offensichtlich sogar zu magischen Praktiken. Man meint, die bösen Geister zu bannen, indem man die bösen Bilder sogar zerstören (!!!) will. Und so etwas ausgerechnet in der lutherischen Kirche, die an Bilderzerstörungen nun ja nicht arm ist.

    Diese Plastik, wie auch ihre Verwandten in anderen spätgotischen Kirchen zeigen uns die Realität des Spätmittelalters.
    Und die war eben gar nicht freundlich. Sondern von aus heutiger Sicht schwer zu ertragender Bösartigkeit. Und das in sehr vielen Bereichen. Solche Elemente zu entfernen hieße, ein ziemlich weichgespültes Bild des Spätmittelalters und auch Luthers gerade in diesen Fragen zu vermitteln.

    Bei speziell dieser Plastik der „Judensau“ ist mir übrigens ein Aspekt aufgefallen, der meines Erachtens noch überhaupt nicht mitbedacht wurde. Wie ich neulich im Radio hörte, gab es seit der Spätantike einige kirchliche Formeln, welche die Verbindung von Juden und Schweinen herstellen sollten.

    Diese ganze Figur erscheint mir kultur- und religionsgeschichtlich doppelt kurios. Die vorchristlichen „Heiden“ hatten mit Schweinen bekanntlich noch weniger Probleme. Da gab es sogar Schweinegottheiten (Nerthus-Kult). Das Schwein als Schimpfwort zu benutzen kann man in Mitteleuropa ja überhaupt erst, wenn man durch ein paar Jahrhunderte christlich-jüdischer Reinheits- und Unreinheitsvorstellungen gegangen ist. Das Schwein dann als Beschimpfung aber gegen die Urheber der Reinheitsvorstellungen, also Juden zu münzen ist sehr kurios.
    Mit anderen Worten: Der Schimpfer war selbst mehr von jüdischen Reinheitsvorstellungen geprägt, als ihm vermutlich selbst bewußt war.
    So kann man über diese unmögliche Plastik nicht nur sagen: Arme, zu Unrecht verunglimpfte Juden, sondern auch: Armes zu Unrecht verunglimpftes Schwein.

    Nun möchten die lutherischen Kirchenleitungen ja, daß diese gotischen Kirchen im Sinne einer Kontinuität weitergenutzt werden können oder sollen. Aber genau hier setzt der Schock an. Es sind eben nicht unsere heimeligen „Wurzeln“, sondern die Kirchen triefen dermaßen von Blut und Unrecht, daß es mir, als jemand, der sich etwas mit Geschichte beschäftigt hat, schwer fällt, dort auch nur sitzenzubleiben. Das ist eben leider unsere Geschichte. Wir können uns keine andere herbeilügen.

    Selbstverständlich verstehe ich das Bedürfnis nach Brückenschlag und Neuanfang auch zum Judentum. Bezeichnenderweise sind es dort aber auch nur Einzelne, die diese Entfernung oder Zerstörung der Schmähplastik fordern. Vielleicht geht es den meisten anderen Juden damit ähnlich wie mir als Homosexuellen in meiner obigen Beschreibung. Ich halte diese Art der möglichen Reinwaschung für die neueste Art der „Versuchung“ eines Bischofs.

    Momentan sehe ich auf sehr vielen Ebenen Bemühungen verschiedenster „AktivistInnen“ Bilder zu zerstören. Ich möchte mir nicht wünschen, daß wir in ein neues Zeitalter des Ikonoklasmus geraten. Dieser ist immer Barbarei.

    Euch alles Gute,
    Jörn

  5. Sehr geehrter, lieber Ralf Meister,

    Ihre Anregung, die judenfeindliche Schmähplastik an der Fassade der evangelischen Stadtkirche in Wittenberg in einem symbolischen Akt zu zerschlagen (vgl. Evangelische Zeitung, 13. November 2022, Seite 15), b e g r ü ß e ich nicht nur, ich schließe mich sie an, mach sie mir zueigen und will nach Kräften dazu beitragen, dass sie bald v e r w i r k l i c h t wird.

    Niemals und nirgends wird welche Untat auch immer ungeschehen gemacht werden können – selbst diese Schmähplastik nicht.

    Heute werden Menschen guten Willens hierzulande und weltweit Menschenfeindlichkeit h o f f e n t l i c h stets früh genug erkennen, sich effektiver und nachhaltiger dagegen einsetzen und alledem viel Positives entgegensetzen (können).

    Miteinander öffentlichkeitswirksam die judenfeindliche Schmähplastik zu e n t f e r e n e n und sie symbolträchtig zu z e r s t ö r e n, wird bestimmt wesentlich dazu beitragen, dass Menschen hierzulande und heutzutage – Menschen wie du und ich und andere – einfühlsamer, umsichtiger, solidarisch und weitsichtig miteinander lebten.

    Gutes Gelingen!

    Ben

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