Pitt von Bebenburg: “Die doppelte SPD”

In 160 Jahren hat die Sozialdemokratie Deutschland geprägt. Heute stellt sie zwar den Kanzler, aber ist bei vielen Themen schwer zu erkennen.

FRANKFURT, 23. Mai 2023: Es gibt fast täglich Gründe, sich über die SPD zu ärgern, an ihr zu zweifeln oder manchmal auch zu verzweifeln. Das fängt an bei der Russland-Politik der vergangenen Jahre und endet nicht bei der aktuellen Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik. Aber man kann, man will sich Deutschland nicht ohne Sozialdemokratie vorstellen. Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität – die Grundwerte der SPD sind aktuell wie nie.

Es ist gut, wenn sich die SPD auf dieses Erbe besinnt. Am heutigen Dienstag feiert sie ihr 160-jähriges Bestehen. Keine Partei hat die deutsche Demokratie geprägt wie sie. Ohne Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen gäbe es in Deutschland kein °allgemeines Wahlrecht, keinen °Acht-Stunden-Tag, keine °gesetzlichen Sozialversicherungen. °Männer und Frauen wären nicht gleichberechtigt, und die °Bildung wäre nicht kostenlos.

Dabei ist die SPD keineswegs Geschichte, sondern mächtige Gegenwart. Mit ihrer „Respekt“-Wahlkampagne von 2021 hat sie den richtigen Ton getroffen und Olaf Scholz den Weg ins Kanzleramt gebahnt. Noch zu Zeiten der Kanzlerin Angela Merkel (CDU) war die Frage aufgeworfen worden, ob die SPD noch den Status der „Volkspartei“ beanspruchen könne. Manche in der Union sahen sich am Ziel, als einzige Volkspartei übrig zu bleiben. Weit gefehlt.

Die SPD deckt das gesamte Spektrum politischer Themen ab, sie hat immer noch fast 400 000 Mitglieder und zahllose kommunale Mandatsträger, Bürgermeister und Landräte. Derzeit stellt sie zudem die Inhaberinnen und Inhaber der höchsten politischen Ämter der Republik, den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, den Bundeskanzler Olaf Scholz und die Bundestagspräsidentin Bärbel Bas. In sieben Bundesländern sitzen Sozialdemokratinnen oder Sozialdemokraten in den Staatskanzleien.

Das muss man erst einmal schaffen als Partei, die in Umfragen bei 17 bis 20 Prozent dümpelt. Die Kanzlerschaft von Scholz mobilisiert die eigenen Leute nicht. Der Bundeskanzler strahlt kein Feuer aus. Scholz wird als Kanzler wahrgenommen, nicht als Sozialdemokrat.

Die SPD hat sich arrangiert mit der Konstellation, die ihr die Macht eingebracht hat, ohne dass Scholz dafür geliebt würde. Sinnbildlich dafür steht das Unbehagen auch in den eigenen Reihen, dass sich Scholz nicht an seine Gespräche mit dem Chef einer Hamburger Bank erinnern kann oder will, die mit ihren Cum-Ex-Geschäften half, den Staat auszuplündern.

Es ist ja nicht das erste Mal, dass die SPD einen Kanzler stellt, mit dem sich nicht die ganze Partei verbunden fühlt. So war es bei Helmut Schmidt, der sich über die Nachrüstungsfrage mit seinen eigenen Genossinnen und Genossen überwarf und der die aufkommende Umweltbewegung unterschätzte. So war es auch bei Gerhard Schröder, der mit seiner Agenda 2010 die Arbeitslosigkeit bekämpfte, aber zugleich dem Niedriglohnsektor den Weg bahnte. In beiden fällen waren die parteipolitischen Folgen für die SPD fatal. Erst wuchsen die Grünen zur Konkurrenz heran, dann nahm Ex-SPD-Chef Oskar Lafontaine einen Teil seiner Anhängerschaft mit zur neu gegründeten Linkspartei.

Die Frage, wie radikal die Sozialdemokratie für Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit eintreten soll, trieb ihre Anhängerinnen und Anhänger von Anfang an auseinander. Die Spaltung der Linken ist Teil ihrer Geschichte.

Das größte Versagen muss sich die SPD am Vorabend des Ersten Weltkriegs anlasten lassen, als die SPD im August 1914 den Kriegskrediten zustimmte. Ein historisches Verdienst kam der SPD 1933 zu, als sie sich mit Macht den Nationalsozialisten entgegenstemmte. Trotz Repressionen und Verhaftungen gelangten 94 SPD-Abgeordnete ins Parlament und stimmten gegen Adolf Hitlers Ermächtigungsgesetz, das den Weg in die Diktatur ebnete. Für viele Genossinnen und Genossen endete der Einsatz für die Demokratie und gegen den Krieg tödlich. Die Nazis ermordeten zahlreiche politische Gegnerinnen und Gegner, darunter viele Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten. Nach dem Zweiten Weltkrieg stellte sich die Frage nach der Haltung zum Sozialismus verschärft angesichts der deutschen Teilung. Mit dem Godesberger Programm von 1959 ging die SPD auf Abstand zum Marxismus, bekannte sich zum wirtschaftlichen Wettbewerb und zur Landesverteidigung. Es war eine Richtungsentscheidung., hin zu einer Volkspartei.

Doch die SPD ist und bliebt eine doppelte Partei, die Partei des Sowohl-als-auch. Sowohl Olaf Scholz als auch Kevin Kühnert. Für Klimaschutz, aber auch für Autobahnbau. Für Menschenrechte, aber mit Einschränkungen, wenn es um Geflüchtete an den EU-Außengrenzen geht.

Es fällt auf: Wenn innerhalb der Koalition gestritten wird, sind die Positionen von Grünen und FDP klau erkennbar. Die SPD als größte Koalitionspartnerin wird dabei am wenigsten sichtbar, als wolle sie sich aus allem heraushalten. Das hat eine Partei mit dieser Geschichte nicht nötig. Die sozial-ökologische Wende muss gelingen, die Rechte der Frauen in der Praxis durchgesetzt werden, die Demokratie muss sich gegen antidemokratische Bestrebungen bewähren. Es ist genug zu tun für eine Partei, die sich für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität einsetzt.

Pitt von Bebenburg           

*Quelle: Frankfurter Rundschau, Leitartikel, 23. Mai 2023, Seite 11 [eigene Hervorhebungen]

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