Henning Melber: „Für eine neue Solidarität“

Henning Melber:
Für eine neue Solidarität

„Empört Euch!”  forderte 2010 der 93-jährige Stéphane Hessel und rief dazu auf, „unsere Gesellschaft so zu bewahren, dass wir stolz auf sie sein können: nicht diese Gesellschaft der in die Illegalität Gedrängten, der Abschiebungen, des Misstrauens gegen Zuwanderer”. Doch die Festung Europa lässt lieber Tausende von Männern, Frauen und Kindern hilflos ertrinken, als ihnen Zuflucht zu gewähren. Die Privilegien des eigenen Lebensstandards sind wichtiger als die Menschlichkeit, die dabei auf der Strecke bleibt. Jene, die es trotzdem bis hinter die Grenzen schaffen, werden kaserniert, um möglichst schnell wieder abgeschoben zu werden – notfalls auch unter Missachtung des Rechtsstaats. Auf den haben Flüchtlinge dann halt doch nicht denselben Anspruch. Der deutsche Minister für Inneres und Heimat feiert deshalb auch, dass an seinem 69. Geburtstag ebenso viele Asylbewerber abgeschoben wurden.

Entsprechend solcher Logik sollten vielleicht Auswanderergesellschaften jene Nachfahren der Emigranten wieder zurücknehmen, die sich einst ungefragt anderswo eine Existenz sicherten. Dann hätte Deutschland die Rückkehrer und Rückkehrerinnen aus den klassischen Siedlerkolonien in Nord- und Südamerika, Australien und dem südlichen Afrika am Hals, darunter z.B. eine größere Zahl der „Südwester-Deutschen”. Wenigstens reden die immer noch – dem Lokalkolorit angepasst – die eigentliche Muttersprache.

Diejenigen, die im Gesamtkontext der Menschheitsgeschichte vor gar nicht allzu langer Zeit ihr Glück anderswo suchten (und oft fanden), waren dort keinesfalls willkommen. Aber sie waren meist die Stärkeren. Deren Eroberungs- und Raubfeldzüge – wie im Falle der deutschen Kolonien – nahmen den Einheimischen das Leben oder die Existenzgrundlage. Sie waren als Herrenmenschen Teil einer europäischen Invasion, die sich den Rest der Erde aneignete.

Europas Reichtum ist auch auf die Ausbeutung von Ressourcen in Übersee einschließlich der dort lebenden Menschen gebaut – und damit ursächlich an der heutigen Misere in vielen dieser Länder zumindest mit beteiligt gewesen. Aber die Folgen dessen und die Verantwortung dafür sollen die Menschen dort tragen – ohne uns. Schließlich, so heißt es, waren es wir ja nicht selber, und dass wir von der geschaffenen Ungleichheit bis heute profitieren, sei doch nicht unsere Schuld. Dass wir diese weiterhin aufrechterhalten und reproduzieren, könne uns nicht vorgeworfen werden. Die Verfolgung eigener Interessen sei allemal legitim und kaum verwerflich – die Despoten in den „shitholes” sind da viel schlimmer.

Genau besehen, so Björn Höcke, beurlaubter und verbeamteter Geschichtslehrer in Hessen und AfD-Vorsitzender in Thüringen in seinem Buch „Nie zweimal in denselben Fluss”, habe der deutsche Kolonialismus ja eigentlich die Kultur nach Afrika gebracht. Und ähnlich der „Nazi-Keule” wird mit dem Verweis auf die Langzeitfolgen kolonialer Herrschaft nur ungerechtfertigt schlechtes Gewissen und ein unbegründeter Schuldkomplex gegenüber Wirtschaftsflüchtlingen geschaffen, die von unserem hart erarbeiteten Wohlstand auf unsere Kosten leben wollen.

Nicht nur der AfD zufolge gehört neben den Forderungen einer kritischen Bearbeitung des deutschen Kolonialismus auch der Rassismus-Vorwurf zum Repertoire von „Gutmenschen”, die nur ein schlechtes Gewissen schaffen und den Nationalstolz madig machen wollen. Die Dokumentierung des erfahrenen Alltagsrassismus durch #MeTwo ist aus Sicht großer Teile des politischen Establishments bestenfalls Kokolores. Es wird geleugnet, dass es in Deutschland Rassismus gibt. Islamistische Familien sind als Nährboden für die Rekrutierung terroristischer Gewalttäter ein „Gefährdungspotenzial”. Hakenkreuzschmierereien, die den Ort feiern, an dem ein neunjähriges Flüchtlingskind totgefahren wurde, sind es hingegen nicht…

In Deutschland wird die Meinungsfreiheit missbraucht, um andere Menschen zu °diffamieren, zu °beleidigen, zu °verletzen, ihnen das bisschen Würde, das ihnen unter der Dominanzkultur noch geblieben ist, wegzunehmen. Zuhause sollen sie sich jedenfalls nicht fühlen: Dass sie in Deutschland geboren wurden, gibt ihnen noch längst nicht das Recht, sich als Deutsche zu verstehen oder gar zu benehmen. Die Entscheidung darüber, was [oder wer] sie sind, reklamieren Andere.

Nicht mit uns! Die issa gründete sich Anfang der 1970er-Jahre im Rahmen der Solidaritätsbewegung mit den antikolonialen Kämpfen im südlichen Afrika. Sie hat sich stets für Menschenrechte und gegen Unterdrückung positioniert. Auch als sich die engen Grenzen der Befreiung zeigten und aus Opfern Täter wurden, hat sich die issa eindeutig gegenüber Unrecht verhalten. Solidarität, wenn sie ernst gemeint ist, erfordert Parteinahme und Praxis überall. Sie kennt keine Hautfarbe oder Herkunft der Menschen, sondern ist von Empathie geleitet. Sie versucht Menschlichkeit zu leben. Auch wenn dies einen Preis hat, und auch wenn dies „unter uns” in Deutschland nötig ist. Wenn wir es ernst meinen mit der Entkolonialisierung, dann müssen wir endlich damit beginnen, indem wir bei uns anfangen. Lassen wir uns die Menschlichkeit nicht nehmen, indem wir es dulden, dass sie Anderen genommen wird. Empören wir uns!

Henning Melber: „Für eine neue Solidarität“
Quelle: afrika süd. Zeitschrift zum südlichen Afrika, Juli/August 2018

siehe auch >> Peter H. Katjavivi: „Zurückschauen, um nach vorne zu blicken”

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