Smail Rapic: „Wir leben bereits in einer Postdemokratie“

Der Philosoph Smail Rapic* über die Verwerfungen des Kapitalismus, die daraus folgende Legitimationsschwäche der Demokratie, und warum die Jugend die letzte Hoffnung ist. Ein Interview von Michael Hesse:

FRANKFURT/M, 13. April 2025: Der Philosoph Smail Rapic befasst sich schon lange mit Fragen, wie man die Exzesse des Kapitalismus vermeiden und den Weg in eine gerechtere Gesellschaft finden kann. Zuletzt war er Organisator einer Konferenz, die zu Ehren von Jürgen Habermas über die Krise der Gegenwart diskutierte.

Professor Rapic, der US-Philosoph Richard Rorty hatte ja schon fast prophetische Züge, als er Anfang der 1990er Jahre einen sogenannten Strongman voraussah, der Donald Trump ähnelt. Wie konnte er das wissen? War das reiner Zufall?

Rortys Ausgangspunkt war die Zunahme sozialer Ungleichheit in den westlichen Ländern. Für ihn entscheidend war sicher die Erfahrung des Aufstiegs der Nationalsozialisten in der Wirtschaftskrise der 1930er Jahre. In solchen Momenten der Geschichte ruft die Gesellschaft oft nach einem starken Mann. Die Idee: Ein starker Mann wird das System im Hauruckverfahren reformieren. Dafür steht ein Wahlplakat, das man 1932 an allen Ecken fand: „Unsere letzte Hoffnung: Hitler“. Wir brauchen jemanden, der dieses korrupte System stürzt und mit harter Hand für Gerechtigkeit sorgt. Diese Logik hatte Rorty im Blick, der Aufstieg der Nationalsozialisten.

Wenn man das mit Francis Fukuyamas berühmter These vom „Ende der Geschichte“ vergleicht, wirkt Rortys Sicht fast schon düster.

Ja, das war eine völlig andere Sichtweise. Fukuyama sah die liberale Demokratie auf dem Siegeszug, während Rorty die Kehrseite der neoliberalen Globalisierung erkannte: die wachsende soziale Ungleichheit. Fukuyama sah den Siegeszug des demokratischen Rechtsstaates in den ehemaligen Ostblockstaaten, er hatte den Abbau der Repressionen vor Augen. Für Fukuyama gehörten Demokratie und Marktwirtschaft zusammen, das war eine verbreitete Auffassung zu dieser Zeit im Westen. Rorty hat es schon damals ganz anders gesehen, er erkannte die Kehrseite der neoliberalen Globalisierung mit der Verschärfung der sozialen Ungleichheit in den westlichen Ländern. In gewisser Weise hatte Rorty den klareren Blick.

Hätte man denn schon in den 1990er Jahren die Krisenhaftigkeit des Systems erkennen können?

Ja, das zeigen etwa die Prognosen von Ralf Dahrendorf zur Entwicklung in den neuen Bundesländern, er verwies auf den Bruch, den es dort gegeben hat, was man nicht unterschätzen sollte. Auch die Entwicklung Russlands war hierfür ein Beispiel: Der Turbokapitalismus nach dem Sturz von Gorbatschow und dem Ende der Sowjetunion führte zu sozialem Absturz, sinkender Lebenserwartung – eine massive Erschütterung, aus der sich das autoritäre System Putins speist.  Diese Krisenerfahrung hat Putin ja erst an die Macht gebracht.

Dahrendorf sprach auch von einem „Jahrhundert der Krisen“.

So ist es. Er meinte: Die Verschärfung sozialer Ungleichheit im globalen Norden wird zu gesellschaftlichen Verwerfungen führen. Das erleben wir heute in den westlichen Ländern, was Dahrendorf schon damals vorhergesehen hat: dass auf die wachsende Ungleichheit die Gefährdung des sozialen Zusammenhalts folgt.

Würde man sagen, dass Trumps Wahlsiege Folgen dieser Verwerfungen sind?

Unbedingt. Trump trat als Anwalt der Abgehängten auf, also jener Menschen, die durch die neoliberale Globalisierung deutliche Wohlstandsverluste erlitten hatten. Sein Narrativ: Die Eliten haben Amerika verkauft, ich holde den Wohlstand zurück. Das verfängt – nicht nur in den USA. ER verkauft seine Botschaft so, dass er behauptet, die ganz Welt habe sich gegen Amerika verschworen, Europäer, Mexikaner und Chinesenließen die Amerikaner verarmen. Alle sind gegen uns, lautet seine Botschaft. Und er ist der Retter. Er reagiert damit auf die Wachstums- und Wohlstandsverluste, die vor allem im Mittleren Westen der USA erkennbar sind und ganze Bundesstaaten der USA massiv betreffen.

Ist der Neoliberalismus dabei die alleinige Ursache?

Nicht allein, aber zentral. Der Neoliberalismus setzte auf freien Welthandel, wie Adam Smith ihn sich erträumt hatte. Smith war fest davon überzeugt, dass er ein langfristiges Wirtschaftswachstum entfesseln und dadurch allen Nationen zu mehr Wohlstand verhelfen wird. Allerdings hat es den freien Welthandel, wie er Smith vorschwebte, bis zu den 1980er Jahren nicht gegeben, weil der Westen die Weltwirtschaft durch den Kolonialismus dominiert hat. Das Wirtschaftswachstum fand bis dahin vor allem im Westen statt. Erst der Neoliberalismus griff die Idee von Smith auf, was zum Abbau der neokolonialen Strukturen geführt hat. Das aber führte auch zu der Wohlstandsverlagerung in den Globalen Süden, wovon China, aber auch Indien profitiert. Die Folge ist, dass der Westen seine Dominanz auf den Weltmärkten eingebüßt hat. Die Realwirtschaft stagniert im Westen seit Jahrzehnten, die größten Gewinne erzielt seither die Finanzbranche. Doch niemand kümmerte sich um die sozialen Folgen. Die Kluft zwischen Gewinnern und Verlierern der Globalisierung wurde einfach hingenommen – bis heute. Es hat nie einen Ausgleich zwischen oben und unten gegen, die Politik hat sich einfach nie darum gekümmert.

Wolfgang Streeck spricht von einer Sättigung im Konsum. Was meint er damit?

Das fordistische Modell der Massenproduktion war in 1970er Jahren ausgereizt. Der Konsumbedarf war gesättigt, die Nachfrage stagnierte, die Arbeitslosigkeit stieg. Die Folge war die neoliberale Wende: Angebotsorientierung statt Nachfragepolitik – mit den bekannten Konsequenzen. Das bisherige Modell des Sozialstaates, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert hat, war nicht mehr finanzierbar. Das führte dann zur neoliberalen Wende. Nun sollte es der freie Markt regeln. Dich nachfrageorientierte Politik der Nachkriegszeit wollte dafür sorgen, dass die Bürger genug Einkommen haben, um die Wirtschaft anzukurbeln. Durch den Rückgang der Produktion von Gütern für den Massenkonsum stiegen die Arbeitslosigkeit und die Sozialleistungen und dadurch auch die Inflation. Das war der Bruch in der westlichen Wirtschaftspolitik. Der Deliverance Schock kam zurück, die Leute hatten einfach auch hier weniger Einkommen. Das neoliberale Rezept bestand darin, die Preise zu senken, indem man die Produktion in andere Länder verlagert, die USA nach Mexiko zum Beispiel, nach China, nach Vietnam und so weiter. Europasuchte Standorte im Osten. Die Zahl der gut bezahlten Arbeitsplätze im Westen ist auf diesem Weg zurückgegangen. Das ist auch eine Folge der Globalisierung.

Also ein Verlagerungseffekt: Gutbezahlte Jobs verschwinden im Westen.

Genau. Produktionsverlagerung in Billiglohnländer war das Rezept. Aber damit verschwand auch der soziale Zusammenhalt. Das erleben wir gerade.

Und warum tut die Politik so wenig dagegen?

Weil sie an systemische Grenzen stößt. Der Staat ist abhängig von Kapitalakkumulation. Er darf die ökonomischen Eliten nicht verprellen – und verliert gleichzeitig die Loyalität der Bürger. Ein Dilemma. Das Schlimme ist, dass sich nichts ändert. Es wird überhaupt nicht versucht, etwas dagegen zu unternehmen. Das Problem ist, dass wir dieses Problem nur durch internationale Zusammenarbeit lösen könnten, indem man generell zum Beispiel die Unternehmenssteuern erhöht und die Kapitalströme durch eine Finanztransaktionssteuer stärker kontrolliert, was nur auf internationaler Ebene gelingen kann. Aber dazu ist niemand bereit, weil die Staaten immer ihre nationalen Interessen in den Vordergrund stellen. Und man müsste dieses politische System einfach grundlegend ändern. Wir bräuchten eine Solidarität der Staaten untereinander. Und wir müssten sozusagen im internationalen Rahmen den globalen Kapitalismus eindämmen. Aber dafür gibt es keine Ansätze. Die Politiker machen einfach business as usual, sie schauen immer nur bis zur nächsten Wahl. Aber die langfristigen Perspektiven, die spielen in der Tagespolitik kaum eine Rolle.

Streeck spricht vom „kapitalistischen Staat“. Trifft das zu?

Ich halte den Begriff für sehr hilfreich. Der Staat ist gefangen zwischen Kapitalinteressen und Bürgerloyalität. Der Staat ist daran interessiert, dass die Wirtschaft genug Gewinn macht, um selbst Steuern abschöpfen zu können. Auf der anderen Seite darf er die Loyalität seiner Bürger nicht verspielen. Und das tut er, wenn er gegen das Auseinanderdriften von Arm und Reich nichts unternimmt. Diesen Loyalitätsverlust erleben wir gerade.

Warum wird nichts dagegen unternommen?

Weil es international Kooperation bräuchte. Globale Mindeststeuern etwa. Aber das widerspricht nationalstaatlichen Eigeninteressen. Deshalb bleibt alles beim Alten.

Und das erklärt den Aufstieg des Populismus?

Natürlich. Populisten behaupten, die Macht dem Volk zurückzugeben. Das ist eine Reaktion auf das Gefühl politischer Ohnmacht in einer postdemokratischen Welt.

Und nun leben wir in dem, was Colin Couch als Postdemokratie beschriebt?

Ja, das lässt sich kaum bestreiten. Der Einfluss der Bürger auf die Politik schwindet, das Vertrauen ebenso. Besonders die Jugend fühlt sich abgehängt – und das nicht zu Unrecht.

Was lehrte uns dann das Jahr 2008?

Dass der Kapitalismus ohne permanentes Wachstum instabil wird. Die Finanzkrise zeigte: Das System wird nur noch durch Finanzspekulationen am Laufen gehalten. Als es krachte, wurden Banken gerettet – nicht die Menschen. Das hat das Vertrauen in die Demokratie massiv erschüttert.

Kann man diese Entwicklung im Sinne des historischen Materialismus deuten?

Ja. Marx und Engels sahen die Tendenz zur Überakkumulation, zur Krise durch Überproduktion. Marx sprach vom „Spiel- und Schwindelsystem“ der ausufernden Kreditvergabe. Genau das erleben wir jetzt.

Wo stehen wir heute?

Ich glaube, wir stehen an einem Kipppunkt. Die westlichen Staaten werden ihre Schulden nie zurückzahlen können. Die Systemfrage stellt sich erneut.

Und was gibt Ihnen Hoffnung?

Die Jugend. Und die ökologische Krise als Katalysator. Vielleicht zwingt sie uns zur Umkehr – zu einem demokratischen Sozialismus, der die Produktionsmittel neu verteilt und den Kapitalismus zügelt.

 

Gibt es denn keinen Weg zwischen Sozialismus und Kapitalismus?

Doch. Wenn man etwa an Axel Honneth denkt: Eine Wirtschaftsordnung, die marktwirtschaftliche Elemente erhält, aber die Dominanz der Großkonzerne durch Demokratisierung der Produktionsmittel begrenzt.

Könnte die Klimakrise den entscheidenden Impuls liefern?

Das ist die große Hoffnung. Dass die Jugend erkennt: Die ökologische Katastrophe ist ohne einen Umbau des Kapitalismus nicht zu verhindern. Soziologen wie Jens Beckert sagen: Der Kapitalismus verhindert einen effektiven Klimaschutz.

*Smail Rapic ist Professor für Philosophie an der Bergischen Universität Wuppertal. Er hat zahlreiche Bücher und Aufsätze verfasst. Zur Debatte über den Kapitalismus ist von besonderer Bedeutung: „Wege aus dem Kapitalismus? Autorengespräche mit Colin Crouch, Nancy Fraser, Claus Offe, Wolfgang Streeck und Joseph Vogl“, erschienen im Verlag Karl Alber 2023.

Quelle: Frankfurter Rundschau, 14. April 2025, Seite 18

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Ein Kommentar zu diesem Artikel bisher »

Kommentare zu »Smail Rapic: „Wir leben bereits in einer Postdemokratie“«

  1. Danke! Ich wage es, zu behaupten, daß wir dem Pflänzchen Demokratie bisher wenig Chancen gegeben haben, zu wachsen. Insofern halte ich den Begriff „Postdemokratie“ für ausgesprochen unhandlich. Wir sollten das Thema einmal öffentlich zum Gespräch anbieten….oder ?

    Beste Grüße

    Ulrich

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