Lutz van Dijk:
100 Jahre Nelson Mandela
Als Nelson ein Junge war, gab es keinen Hunger in den Dörfern auf den grünen Hügeln am Ostkap Südafrikas. Niemand war reich, aber alle hatten genug zu essen. Sein Vorname lautete Rolihlahla, was in Xhosa so viel bedeutet wie „Unruhestifter“. Nelson wurde er erst auf einer englischen Missionsschule gerufen, weil die Lehrer vorgaben, Schwierigkeiten mit der Aussprache des afrikanischen Namens zu haben.
Auch zu seiner Schulzeit gab es bereits die Unterdrückung durch die Engländer. Aber erst mit dem Wahlsieg der niederländisch stämmigen Buren ab 1948 wurden der Hautfarben-Rassismus zum Gesetz der „Apartheid“ in Südafrika: Landenteignungen, Zwangsumsiedlungen, Verbot der „Mischehe“ und Segregation im Alltag wurden nun zur gewaltsam durchgesetzten Ordnung. Auch in den Dörfern am Ostkap wurde Land enteignet und Männer oft von ihren Familien getrennt, um sich in den Minen um Johannesburg zu verdingen.
1948 war Mandela 30 Jahre alt. Sein Vater starb, als er neun war. Ein Onkel, der zum königlichen Clan des Thembu Volkes gehörte, übernahm die Erziehung. Aber der junge Mandela machte bereits früh seinem afrikanischen Vornamen alle Ehre: Als der Onkel eine Heirat ohne seine Zustimmung arrangierte, verschwand der 23Jährige nach Johannesburg. Dort überlebte er durch alle möglichen Gelegenheitsarbeiten, sein Hobby wurde das Boxen.
Und er begann sich für Politik zu interessieren: Mit 26 Jahren trat er dem seit 1912 bestehenden African National Congress (ANC) bei. Im gleichen Jahr gründete er mit Freunden die Jugendliga des ANC, zu dessen Präsident er 1951 gewählt wurde. 1952 begann er mit Oliver Thambo, einem späteren Präsidenten des ANC, die erste schwarze Anwaltspraxis in Südafrika.
Bis dahin hatte sich der ANC strikt gewaltfrei gegen die Gewalt des weißen Apartheid Regimes gewehrt. Nach dem Massaker von Sharpeville vom März 1960, bei dem 69 friedliche Demonstranten niedergeschossen und viele schwer verletzt worden waren, gehörte Mandela zu den ersten, die dazu aufriefen, die Gewalt der Regierung mit Waffen zu bekämpfen. Auf seine Initiative wurde die militärische Abteilung des ANC gegründet unter dem Namen „Umkhonto weSizwe“ (Speer der Nation). In der Folgezeit nahm er Kontakte zu anderen Befreiungsbewegungen in Afrika auf.
Es ist weithin bekannt, dass er für diese Arbeit im Untergrund nach seiner Verhaftung 1962 und seiner Verurteilung 1964 insgesamt 27 Jahre im Gefängnis hat verbringen müssen. Obwohl Jahrzehnte keine persönlichen Informationen, nicht einmal mehr aktuelle Fotos von Nelson Mandela existierten, nahm sein Ruf als Befreiungsheld nicht nur in Südafrika eher zu. Auf der anderen Seite wurde er noch 1988 als „Terrorist“ vom damaligen US Präsidenten Ronald Reagan bezeichnet. Selbst die anerkannte Menschenrechtsorganisation amnesty international hatte es wegen seiner Unterstützung von Gewalt immer abgelehnt, ihn als Gewissensgefangenen anzuerkennen.
In seiner letzten öffentlichen Rede bis zu seiner Freilassung 1990 sagte er 1964 vor dem Gericht in Pretoria:
„Ich habe gegen weiße Vorherrschaft gekämpft,
und ich habe gegen schwarze Vorherrschaft gekämpft.
Ich habe das Ideal einer demokratischen Gesellschaft gepflegt,
in welcher alle Personen in Harmonie und mit gleichen Chancen zusammenleben.
Es ist ein Ideal, für welches ich hoffe zu leben… Aber sollte es notwendig sein,
ist es ein Ideal, für das ich bereit bin zu sterben.“
Ab Mitte der 1980er Jahre bot ihm die weiße Minderheitsregierung Freiheit an, wenn er sich öffentlich gegen den bewaffneten Kampf aussprechen würde. Mandela lehnte ab. Seine Freilassung im Februar 1990 war bedingungslos.
Vom ersten Tag an setzte er sich für die Versöhnung im tief gespaltenen Südafrika ein. Gemeinsam mit dem letzten weißen Präsidenten Frederik Willem de Klerk (Jg. 1936) erhielt er dafür 1993 den Friedensnobelpreis. Als er bei den ersten freien Wahlen 1994, die friedlich verliefen und von vielen Beobachtern als „Wunder“ bezeichnet wurden, zum Präsidenten gewählt wurden, gab es nicht wenige der ehemals Privilegierten, die dem Frieden noch nicht trauten.
In unzähligen Aktionen ging Mandela selbst als Beispiel der Versöhnung voran: So besuchte er die Witwe des „Architekten der Apartheid“ Henrik Verwoerd in der erzkonservativen Enklave Orania. Oder er ging im Trikot der traditionell weißen Rugby Nationalmannschaft bei den Weltmeisterschaften 1995 in Südafrika aufs Spielfeld.
Als er einige seiner ehemaligen Aufseher von der Gefangeneninsel Robben Island in den Präsidenten-Palast einlud und einige tatsächlich kamen, fragte er: „Haben Sie auch Kinder? Wie viele ? Ich habe sechs Kinder und viele Enkelkinder.“ Nachdem einige geantwortet hatten, fuhr er fort: „Wissen Sie, was das Schlimmste während der vielen Jahre Gefangenschaft war? Nicht die harte Arbeit, nicht das schlechte Essen, nicht mal das dauernde eingesperrt Sein. Das Schlimmste war, dass ich nicht miterleben durfte, wie meine Kinder aufwuchsen. Lassen Sie uns alles dafür tun, dass Ihre und meine Kinder und Enkelkinder in Frieden und als Freunde aufwachsen können.“
Nelson Mandela hatte nie einen Zweifel daran gelassen, dass er nur für eine Regierungsperiode zur Verfügung stehen würde. Auf einer der ersten Presse-Konferenzen danach sagte er im April 1999 auf die Frage eines Journalisten, ob er auch Versäumnisse benennen könne:
„Ja – mein Fokus war die Versöhnung. Mein Albtraum war, dass Südafrika in Gewalt untergehen würde. Dabei habe ich zu lange ignoriert, dass sich die Krankheit Aids in unserem Land vor allem unter den Armen epidemieartig verbreitet hat. Ich hoffe, dass mein Nachfolger dies ernst nehmen wird.“
Dem war leider nicht so. Der nächste Präsident Thabo Mbeki machte sich international vor allem einen Namen als Leugner von Aids. Nach unabhängigen Studien starben während seiner Regierungszeit mehr als 300.000 Menschen, da die Regierung ihnen die Medikamente verweigerte.
Als Nelson Mandelas Sohn Makgatho 2005 mit 54 Jahren an den Folgen von Aids starb, gab er die wahre Todesursache bekannt (was damals unter Prominenten die Ausnahme war). Die von ihm 1999 gegründete Nelson Mandela Stiftung setzt sich neben allgemeinen Verbesserungen für Kinder und Jugendliche vor allem für eine Bekämpfung von HIV/Aids ein.
Sein Geburtstag ist seit 2009 ein jährlicher Feiertag, der sogenannte “Mandela Day“, an dem alle Menschen aufgerufen sind, sich konkret für Ärmere und Benachteiligte einzusetzen.
Es ist nicht Nelson Mandela anzulasten, dass auch der nächste Präsident Jacob Zuma nicht seinem Vorbild folgte, sondern sich zuerst selbst bereicherte. Hoffnung gibt es erst wieder seit Februar 2018, als Cyril Ramaphosa zum Präsidenten wurde, der übrigens bereits 1999 der Wunschnachfolger von Mandela gewesen wäre.
Wird er es schaffen, die weiter zugenommenen Extreme von schlimmster Armut für die Mehrheit und Luxus für eine Minderheit zu überwinden? Noch immer besitzen rund 10 % der Bevölkerung 87 % des Landes. Es ist zu bezweifeln, dass eine junge Generation erneut 24 Jahre geduldig warten wird. Der militante junge Anführer der inzwischen drittstärksten Oppositionspartei Julius Malema (Jg. 1981) sprach es vor kurzem unüberhörbar aus: „Die Zeit der Versöhnung, von der zuerst die Reichen profitierten, ist vorbei. Wir wollen endlich Gerechtigkeit.“
Dr. Lutz van Dijk, Autor von u.a. „Afrika – Geschichte eines bunten Kontinents“ (2015). Zu Zeiten der Apartheid hatte er Einreiseverbot nach Südafrika, seit 2002 lebt er in Kapstadt.
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