Christian Bommarius: Völkermord. Der Papst hat Recht – und irrt

Der Papst hat die Wahrheit gesagt, und dennoch ist ihm in einem wichtigen Punkt zu widersprechen. Seine Behauptung, der Genozid an den Armeniern sei der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts gewesen, ist falsch. Ein Kommentar:

Der Papst hat über den Völkermord an den Armeniern die Wahrheit gesagt, und dennoch hat er sich geirrt. Es ist wahr, dass das Osmanische Reich vor 100 Jahren beim Versuch, das Volk der Armenier auszulöschen, einen Genozid mit bis zu 1,5 Millionen Opfern verübt hat. Nicht diese unwiderlegliche Wahrheit ist „inakzeptabel“, wie die türkische Regierung behauptet, sondern die Reaktion der türkischen Regierung, die droht, die Äußerung Franziskus’ werde nicht ohne Folgen bleiben, und den Botschafter des Vatikans ins Außenministerium einbestellt.

Es wäre interessant zu hören, was die Regierung bei dieser Gelegenheit dem Botschafter mitzuteilen hat  – dass die Wahrheit über den Völkermord an den Armeniern überall in der Welt ihren Platz hat, in der Türkei aber strafrechtlich verfolgt und mit Gefängnisstrafe bedroht wird?

Der erste Völkermord passierte in Afrika

Der Papst hat die Wahrheit gesagt, und dennoch ist ihm in einem wichtigen Punkt zu widersprechen. Seine Behauptung, der Genozid an den Armeniern sei der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts gewesen, ist falsch. Auch wenn die Mehrheit der deutschen Politiker davon bis heute nichts wissen will, war die fast vollständige Vernichtung der Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika zwischen 1904 und 1908 nach fast einhelliger Ansicht der Wissenschaft als Völkermord einzustufen. Und allein der Umstand, dass die Auslöschung von rund 10 Millionen Afrikanern in der Kolonie Kongo des belgischen Königs Leopold II. bereits in der 80er Jahren des 19. Jahrhunderts begonnen hat, ändert nichts daran, dass dieser Genozid den schwersten Verbrechen des 20. Jahrhunderts zuzurechnen ist – denn er endete erst 1908, nachdem der König zur Abgabe der Kolonie gezwungen worden war.

Wer vom Völkermord an den Armeniern reden will, darf von diesen Kolonialverbrechen nicht schweigen. Denn auch die Behauptung Franziskus’ ist wahr: „Wo es keine Erinnerung gibt, hält das Böse die Wunden offen.“

© Christian Bommarius: Der Papst hat Recht – und irrt. Frankfurter Rundschau. Aktuelle Kommentare. 13. April 2015.

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